„Democracy is, what happens to you, while you are busy making other plans“ – Polizeiberichte über den Weg der Bürgerinnen und Bürger in die Demokratie, ca. 1945-1950

Wie kamen die Bürgerinnen und Bürger im zukünftigen Baden-Württemberg in der Demokratie an? Neben dem allgemein unbeliebten Entnazifizierungsverfahren, das seit der Regelung durch das „Gesetz zur Befreiung von Militarismus und Nationalsozialismus“ vom März 1946 in einer individualisierenden Weise überprüfte, welche Personen in Frage kamen, am demokratischen Wiederaufbau voll partizipieren zu dürfen, vollzogen sich zahlreiche weitere Entwicklungen, die in der Regel außerhalb der Kontrolle der Bewohner der südwestdeutschen Besatzungszonen lagen. Entscheidungen, die auf Ebene der hohen Politik getroffen wurden, konnten von den Bürgerinnen und Bürgern lediglich hingenommen oder kritisch kommentiert, aber nur bedingt beeinflusst werden. Für die Behörden kam es in dieser Situation darauf an, über die Stimmung in der Bevölkerung informiert zu sein. Diesem Zweck dienten Polizeiberichte, die von 1945 bis 1950 den Innenminister und einige weitere Stellen darüber informierten, wie die Bevölkerung sich zu den politischen Entscheidungen „von oben“ verhielt. Diese Berichte bieten daher eine interessante Perspektive darauf, wie die deutschen Bürgerinnen und Bürger den Wiederbeginn demokratischen Lebens wahrnahmen.

            Die Berichte, die in relativ gleichförmigem Aufbau zunächst wochen- später monatsweise von lokalen Dienststellen erstellt, zusammengefasst und dann an das Innenministerium weitergereicht wurden, gliederten sich für den Großteil des Zeitraums in drei Kategorien: I. Sicherheitszustand II. Allgemeines III. Besondere Vorkommnisse. Meist waren die Texte 3-4 Seiten lang. Die Vielfalt der behandelten Themen lässt dabei mitunter an vormoderne Chroniken denken, denn von günstigen oder ungünstigen Ernteerträgen über meteorologische Ereignisse bis hin zu Aberglauben, politischen Ereignissen, Verbrechen, Suiziden oder umlaufenden Gerüchten boten die Berichte ein farbiges Bild des Lebens in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Ein besonderes Augenmerk lag dabei auf der „Stimmung“ der Bevölkerung. Die Berichte reihen sich damit in eine Gattung ein, die mindestens seit dem späten Kaiserreich über den Ersten Weltkrieg und während der nationalsozialistischen Herrschaft, dazu diente, in einer Zeit, in der demoskopische Erhebungen zumindest in Deutschland noch in den Kinderschuhen steckten, Aufschluss über die Haltung der breiten Bevölkerung zu erlangen.

            Selbstverständlich müssen diese Berichte mit der notwendigen Distanz gelesen werden, denn sie beruhten auf dem, was einzelne Beamte in ihrem Umfeld vernahmen und boten demnach nur diejenigen Reaktionen, welche die Beamten in irgendeiner Hinsicht für repräsentativ hielten. Nichtsdestotrotz erzeugten die Texte ein Bild der Realität im Lande, das wiederum politisch wirksam werden konnte. Wie also stellten sich die Schritte oder Zäsuren auf dem Weg zur bundesdeutschen Demokratie in diesen Quellen dar? 

            Zunächst zeigt sich, dass die Bevölkerung aus Sicht der Behörden kaum am Wiederbeginn des politischen Lebens partizipierte. Vor allem auf dem Lande – so eine Woche für Woche gebetsmühlenartig wiederkehrende Klage – nahm die Öffentlichkeit kaum am politischen Prozess teil. „Die Parteiversammlungen werden in den Landgemeinden gering besucht“, lautete ein typischer Eintrag im Juni 1946. Dasselbe galt für die Wahlveranstaltungen „bei denen eine Besucherzahl von 10-20 Personen keine Seltenheit“ war; zudem war ein „Großteil der Bevölkerung […] weder über die zur Wahl stehende [Landes-]Verfassung, noch über deren Sinn und Zweck informiert“, verlautete es im November desselben Jahres. Überhaupt – so hieß es im Februar 1947 – stehe die Bevölkerung „dem politischen Zeitgeschehen“ mit „große[r] Gleichgültigkeit“ gegenüber. Ähnliche Beobachtungen liefen auch anlässlich der Gemeinde- und Kreistagswahlen im November 1947 bei der Regierung ein. 

Die Ursache dieser „politischen Lethargie“ erkannten die Behörden darin, dass die Deutschen sich „nur noch für unmittelbare Alltagsprobleme, an deren Spitze Ernährung, Wohnung und Bekleidung stehen“ (31.12.1947) interessierten. Tatsächlich enthüllen die Berichte die Härten des Nachkriegslebens und insbesondere die ökonomischen Probleme. Hinter all dem standen politische Fragen weit zurück. Das Thema, das die Bevölkerung ausweislich der Berichte am stärksten beschäftigte, war deshalb die Währungsreform im Juni 1948. Diese Zäsur, die sich aufgrund des plötzlich wieder vorhandenen Warenangebots auch in das kollektive Gedächtnis der Westdeutschen wesentlich stärker eingebrannt hatte als all die in den heutigen Schulbüchern kanonisierten Etappen auf dem Weg zur Bundesrepublik, tritt schon in den zeitgenössischen Berichten deutlich hervor. Der Erfolg der Demokratie bedurfte aus dieser Sicht auch eines „Vertrauen[s] der Bevölkerung zur neuen Währung“, das nicht erschüttert werden durfte, wie die Behörden Anfang Juli 1948 festhielten. 

            Tatsächlich legte die Bevölkerung bei ihrer Beurteilung des politischen Geschehens vor allem einen Maßstab an: die Verbesserung der (eigenen) ökonomischen Situation. Die politischen Maßnahmen erschienen demnach stets als zu langsam, ineffektiv oder lediglich an den Interessen der Parteien ausgerichtet. Dabei trat auch ein gewisser traditioneller Anti-Parteien-Affekt in den Äußerungen der Öffentlichkeit deutlich hervor. Im Landtag agierten die Parlamentarier angeblich nur, um „Diäten und Aufwandsgelder“ einzustreichen. Eine „Volksverbundenheit“ werde in den Herzkammern der Demokratie keineswegs gepflegt.

Auch über die langwierigen Beratungen des Parlamentarischen Rats urteilten die Bürger äußerst kritisch, da die Politiker hier lediglich „um die Interessen von Parteien feilsche[n] und nicht um Probleme, die das deutsche Volk betreffen.“ Gebildetere Kreise dagegen nahmen eine diachron-vergleichende Perspektive ein und betonten, dass es doch 1919 „in kürzester Zeit“ gelungen sei, eine Verfassung zu verabschieden. Warum also – so der Vorwurf – dauere das dieses Mal so lange? Der Blick in die Vergangenheit blieb aber, ausweislich der Berichte, die Ausnahme. Weder die Weimarer Republik noch die NS-Herrschaft spielten für die Stimmung der Bevölkerung eine große Rolle, deren Erfahrungsraum wie weggebrochen schien und deren Erwartungshorizont nicht weiter reichte als einige Tage oder Wochen. Die Polizeiberichte zeichnen insgesamt das Bild, dass die politischen Eliten zunächst unter Anleitung der Besatzungsmächte den Weg in die Demokratie gingen und sich dann darum bemühten, die Bevölkerung nachzuholen. Denn tatsächlich ergriffen die Verantwortlichen Maßnahmen, um die tiefe Kluft zwischen Parteien, politischen Institutionen und Bürgern zu überbrücken. Deshalb übertrug das Radio Stuttgart schon ab November 1948 die Sitzungen des württembergisch-badischen Landtags und die Besatzungsmächte organisierten sogenannte Forumsveranstaltungen, in denen die Bürgerinnen und Bürger den politischen Vertretern und den Verantwortlichen der Besatzer Fragen stellen und mit ihnen diskutieren konnten. Sofern die aktive und passive Teilnahme an politischer Kommunikation und Diskussion selbst als Teil einer demokratischen Praxis gelten kann, wurden hier erste Maßnahmen ergriffen, um die Bürgerinnen und Bürger in die neue Demokratie mitzunehmen. Doch das änderte nichts daran, dass sich der Weg in der Demokratie relativ mühsam gestaltete. Aus dem Bild, das die Berichte von dem politischen Interesse der breiten Bevölkerung zeichnen, lässt sich daher – in Abwandlung eines John Lennon zugeschriebenen Zitats – zugespitzt die These formulieren: Democracy is, what happens to you, while you are busy making other plans. Während die Mehrheit der Menschen mit sich selbst und der Bewältigung des Alltags beschäftigt war, entstand das demokratische Gehäuse um sie herum, ohne dass hierbei größere Partizipationsbestrebungen seitens der Bevölkerung zu verzeichnen waren. Insofern bieten die Polizeiberichte Belege für die in der Forschung etablierte These, dass die Bundesrepublik erst durch ihre ökonomischen Erfolge maßgeblich an Legitimation bei der eigenen Bevölkerung gewinnen konnte.

Dr. Sebastian Rojek

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