Wilhelm Keil in der Vorläufigen Volksvertretung von Württemberg-Baden

Bis heute hat sich in der Geschichtswissenschaft keine eindeutige Meinung durchgesetzt, wie jene Epoche zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Beginn der Bundesrepublik bezeichnet werden kann. So wird sie entweder als „Nachkriegszeit“, als „Besatzungszeit“ oder als „Vorgeschichte“ der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik gedeutet, womit sie hauptsächlich von ihrem Ursprung, dem verlorenen Weltkrieg, oder ihren Folgen, der doppelten Staatsgründung von 1949 gedacht wird.[1] Die Betonung der Eigenständigkeit jener Epoche steht daher unweigerlich unter schwierigen Voraussetzungen. Einerseits wird sie als ein nicht eigenständiger Zeitraum zwischen dem Nationalsozialismus und der Bundesrepublik wahrgenommen, andererseits als Ausdruck machtpolitischen Vakuums der Deutschen unter den Militärregierungen verstanden.

Das Gefühl, in einer Art „Übergangszeit“ zu leben, musste auch Wilhelm Keil besessen haben. Der damals 75-jährige SPD-Politiker erlebte mit dem Kaiserreich, der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus drei verschiedene politische Systeme. Von 1900 bis zum Untergang des Königreichs Württemberg 1918 war er Landtagsabgeordneter in der Zweiten Kammer der Württembergischen Landstände. Im Landtag des freien Volkstaates Württemberg saß er bis 1933 als Vorsitzender der SPD-Fraktion. In der NS-Zeit zog er sich ins Privatleben zurück, bis er 1945 als Vorsitzender der Landräteversammlung wieder die politische Bühne betrat. Schließlich fungierte er als Präsident der Vorläufigen Volksvertretung Württemberg-Baden und ab 1946 als Präsident des Landtags von Württemberg-Baden.

Abb.: Gebhard Müller, Wilhelm Keil und Leo Wohleb (von links nach rechts) bei der Eröffnung der Verfassunggebenden Landesversammlung am 25. März 1952, Quelle: HStA Stuttgart, Q 1/35 Bü 846.

Angesichts der herrschenden Not, der die Zeitgenossen nach dem Krieg ausgesetzt waren, ist es verständlich, das erlittene Unglück in der Vergangenheit der Hitlerdiktatur zu suchen, und gleichzeitig jene Epoche der Entbehrung, des Hungers und der Besatzung so schnell wie möglich hinter sich lassen zu wollen. Wilhelm Keil erlebte die ersten Nachkriegsmonate als Interregnum deutscher Staatlichkeit, machte er sich doch stets und mit Nachdruck bei der amerikanischen Besatzungsmacht für eine rasche Demokratisierung Deutschlands stark.

Von der Vorläufigen Volksvertretung zum Parlament

Die Bühne für dieses Anliegen bot sich Keil im Sitzungssaal der Vorläufigen Volksvertretung, im Großen Haus des Württembergischen Staatstheaters in Stuttgart. Die Vorläufige Volksvertretung löste die Landrätetagungen ab, jene Zusammentreffen der württembergischen Landräte zur Koordinierung politischer Aufgaben auf der regionalen Ebene. Sie besaß lediglich beratende Funktion gegenüber der von den Amerikanern eingesetzten Landesregierung von Reinhold Maier, gilt aber in der Forschung als Vorstufe der Demokratisierung Württemberg-Badens. Ihre Mitglieder wurden nicht gewählt, sondern von der Militärregierung ernannt. Neben Wilhelm Keil und „Staatschef“ Reinhold Maier, waren noch weitere Regierungsmitglieder, Vertreter der zugelassenen Parteien, die Landräte und Oberbürgermeister sowie Vertreter von Gewerkschaften, Industrie, Handwerk, Landwirtschaft, Hochschule und Kirchen Mitglieder.[2]

Dem Präsidenten gebührte die Eröffnungsansprache. In der ersten Sitzung der Vorläufigen Volksvertretung, am 16. Januar 1946, beschwor Keil in einer längeren Ansprache vor den Mitgliedern und der Militärregierung die demokratischen Traditionen Württembergs und Badens, beklagte die Zerstörungswut des nationalsozialistischen Staates und warb um Vertrauen bei der amerikanischen Militärregierung. Die zweite Sitzung bot sich ebenfalls für eine längere Eröffnungsrede an, jährte sich an ihrem Sitzungstag, dem 30. Januar 1946, die nationalsozialistische „Machtergreifung“ zum 13. Mal. Keil erinnerte zwar an dieses Datum, hielt sich in längeren Ausführungen aber zurück. Der Grund dafür lag am Fernbleiben von Oberst Charles D. Winning und anderer hoher Militärs, denn diese Eröffnungsansprachen waren nicht an die Mitglieder der Versammlung gerichtet, sondern an die Besatzungsmacht. Dies zeigt sich, als Keil bei der dritten Sitzung, am 27. Februar 1946, wieder auf eine längere Ansprache zurückgriff, obwohl es „nicht die Aufgabe des Präsidenten [ist], in jeder Sitzung eine Eröffnungsansprache zu halten“.[3]

Ansprache Wilhelm Keils bei der 3. Sitzung der Vorläufigen Volksvertretung Württemberg-Badens, 27. Februar 1946

Die dritte Sitzung der Vorläufigen Volksvertretung am 27. Februar 1946

Der dritten Sitzung sollten die amerikanischen Militärs wieder beiwohnen und auch hier versuchte Keil das Sitzungsdatum als Aufhänger für seine Ansprache heranzuziehen. Dies gelang ihm nur bedingt, doch Keil wurde fündig. So konnte er zwar an den Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 erinnern, doch bereits bei der Erwähnung der Lebensdaten von Friedrich Ebert, gestorben an einem 28. Februar, und August Bebel, geboren an einem 22. Februar, legte er die Bedeutung des Sitzungsdatums weit aus. Keil versuchte eher krampfhaft als gelöst den Monat Februar als Verbindungspunkt zwischen „deutschen und amerikanischen Demokraten“ zu betonen, indem er nun auch die Geburtsdaten von George Washington (22. Februar) und Abraham Lincoln (12. Februar) ins Feld führte.

Die Zufälligkeit von Lebens- und Ereignisdaten musste herhalten, um eine Verbindung zwischen den Besatzern und dem besiegten Volke herzustellen. Die Konstruktion dieser Verbindung aufgrund der Zufälligkeit von Geburts- und Sterbedaten misslang zwar. Keils Anliegen war jedoch ein anderes: Er wollte die Gelegenheit nutzen, bei der Militärregierung auf die demokratischen Traditionen deutscher Persönlichkeiten hinzuweisen, die seiner Meinung nach vielerlei Berührungspunkte mit den Vereinigten Staaten besaß. So besaßen Ebert und Bebel seiner Meinung nach ein großes Verständnis für die internationale Verbundenheit der Völker und galten als wichtige Protagonisten eines demokratischen Deutschlands. Keil zog zudem eine Linie von 1848 zu 1933: so, wie nach der Märzrevolution die „deutsche Reaktion“ Demokraten aus dem Lande gejagt hätten, so hätten SA- und SS-Horden ab 1933 jenes spärliche Pflänzlein der deutschen Demokratie zertrampelt, das nach 1930 noch übriggeblieben ist. Der zweite Anlauf einer deutschen Demokratie würde nur Erfolg haben, so Keil, wenn sich die Deutschen aufrichten würden „am Geist der Freiheit und Versöhnung“ eines George Washingtons und Abraham Lincolns, aber auch eines Friedrich Eberts und August Bebels.

Diese Vergleiche hinken deutlich und entsprechen eher nicht geschichtswissenschaftlichen Analysekategorien. Darüber aber setzt sich Keil, bewusst oder unbewusst, hinweg, da er bei seinen amerikanischen Zuhörern die Existenz eines „anderen, demokratischen Deutschlands“ ins Gedächtnis rufen wollte. Ob solche Ausführungen die amerikanische Besatzungsmacht maßgeblich bewogen hat, den Deutschen mehr demokratische Rechte zuzugestehen, ist eher unwahrscheinlich. Dennoch verweist Keil auf einen wichtigen Aspekt jener Epoche. Die Demokratisierung Deutschlands war für ihn ein unumgänglicher Prozess, um diese Zwischenzeit so schnell wie möglich hinter sich lassen zu können.

Demokratisierungsprozess der Länder

Begreifen wir diese Rede, an historischen Vergleichen schief und aufbauend auf der Zufälligkeit von Lebensdaten, als ein konstantes Werben um den raschen Aufbau staatlicher und demokratischer Strukturen, so verdeutlicht dies vielleicht am ehesten die Bedeutung des Zeitraums zwischen 1945 und 1949. Würde man jene Epoche lediglich als Vor- oder Nachgeschichte größerer historischer Ereignisse deuten, besäßen die Bemühungen von Wilhelm Keil und anderer um eine Demokratisierung des Landes keinen Eigenwert. In jener Prozesshaftigkeit der demokratischen Entwicklung aber zeigt sich die Bedeutung des Zeitraumes zwischen 1945 und 1949, was den Südwesten anbelangt sogar bis 1952. Es fehlen sicherlich die staatlichen Determinanten, um dieser Epoche einen eigenständigen Begriff geben zu können und sie vom Signum der Übergangszeit zu befreien. Tatsächlich haben die Zeitgenossen die unmittelbare Zeit nach dem Krieg als unübersichtlich und fremdbestimmt wahrgenommen. Der Demokratisierungsprozess lief jedoch rasch an, und bereits 1946 konnte der erste Landtag Württemberg-Badens seine Arbeit aufnehmen – knapp drei Jahre vor dem 1. Deutschen Bundestag. Ich plädiere mit diesem Blogbeitrag daher dafür, die Eigenständigkeit jener Epoche gerade in ihrer Dynamik zu begreifen – als Neukonstituierung demokratischer Koordinaten unter dem Schirm der Besatzungsmächte.


[1] Wie Jörg Echternkamp zurecht kritisiert, vgl. Ders., Nach dem Krieg. Alltagsnot, Neuorientierung und die Last der Vergangenheit 1945 – 1949, Zürich 2003, S. 10-13.

[2] In Erinnerung geblieben sind vor allem die Reden von Reinhold Maier über das Problem der wirtschaftlichen Einheit Deutschlands am 27. März und Fritz Ulrich über die Situation der Flüchtlinge am 17. April 1946: „In beiden Reden wurden die Siegermächte aufgefordert, von ihrem verderblichen Haß- und Rachedenken abzurücken und dem in bitterster Not dahinvegetierenden deutschen Volk wieder eine menschenwürdige Existenz zu ermöglichen“, Zitat in Handbuch der baden-württembergischen Geschichte, Band 4, S. 373.

[3] Verhandlungen der Vorläufigen Volksvertretung für Württemberg Baden, 3. Sitzung am 27. Februar 1946, Protokolle, S. 54. In seinen Erinnerungen betont Keil diesen Aspekt deutscher demokratischer Kräfte in besonderem Maße, wofür Oberst William Dawson, Leiter der Militärregierung Württemberg-Baden, Keil zufolge „volles Verständnis“ besaß, vgl. Wilhelm Keil, Erlebnisse eines Sozialdemokraten, Band II., Stuttgart 1948, S. 691.

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