Die „Affäre Magolsheim“

Die Ereignisse vom Juni 1957 in der schwäbischen Gemeinde Magolsheim (seit 1975 Gemeinde Münsingen im Landkreis Reutlingen) sind eines der extremsten Beispiele für den auf Ausgrenzung zielenden Umgang mit sogenannten „Zigeunern“ und „Landfahrern“ in der frühen Nachkriegszeit der Bundesrepublik. Eine Sinti-Familie kaufte im Sommer 1957 durch Vermittlung und finanzielle Unterstützung des Bürgermeisters der Gemeinde Herrlingen, die die Familie loshaben wollte, ein Haus in der 450 Seelen zählenden Nachbargemeinde Magolsheim. Der Herrlinger Bürgermeister stellte die Mittel für den Erwerb des Hauses nur unter der Bedingung zur Verfügung, dass die Familie seine Gemeinde verlasse. Da die Magolsheimer den Einzug der Sinti-Familie mit legalen Mitteln nicht verhindern konnten – eine als „Protest gegen die Belegung des Hauses Nr. 5 in Magolsheim“ formulierte Eingabe, in der es als die Pflicht der Verwaltung betrachtete wurde, die „drohende Hefahr [sic!] rechtzeitig abzuwenden und die Gemeinde vor dem Schlimmsten zu bewahren“ enthielt 85 Unterschriften –, entschieden sich die Dorfbewohner zur kollektiven Selbstjustiz: „Es bleibt jetzt nichts anderes als Selbsthilfe – Wenn die Zigeuner da sind, ist es zu spät“, wird eine der später beteiligten Personen zitiert. Am Vorabend des Einzugs versammelten sich 31 Einwohner, einschließlich Bürgermeister, in der Dorfkneipe, um das Vorgehen zu beratschlagen. Während sich der Dorfvorsteher am Ende dieses Treffens schlafen legte, rissen die anderen Teilnehmer das Gebäude bis auf die Grundmauern ab: „Das Haus war nicht mehr da“, lautete die entsprechende Meldung aus einer Regionalzeitung zur als „Gemeinschaftsarbeit der Einwohner“ verharmlosten Manifestation des (Nachkriegs-)Antiziganismus. Die Lokalpresse zeigte in der Regel Verständnis über den „Unwille[n] und die Erbitterung der Bevölkerung […], die sich gegen eine Zigeuner-Invasion zur Wehr setzte“, auch wenn sie „die gewählte Methode […] unter allen Umständen [als] falsch“ bezeichnete.         

Die wegen Landfriedensbruch eingeleiteten Ermittlungen zogen sich über ein dreiviertel Jahr hin. Im März 1958 wurden zwei als Rädelsführer überführte Landwirte zu neun Monaten Gefängnis verurteilt; alle anderen Angeklagten im sogenannten „Hausabbruch-Prozess“ erhielten Bewährungsstrafen. Als Motiv nannte das Gericht eine „ablehnende Haltung gegen Zigeuner an sich“. Das Gericht erachtete das Verhalten der Magolsheimer „als nicht gerechtfertigt“, betonte aber, dass die Tat „nicht aus verbrecherischer Gesinnung“ resultiere, die Täter sich vielmehr durch die Gemeinde Herrlingen „herausgefordert fühlten“. Ein nicht näher bekannter Autor appellierte im Zeitungsartikel „Jenseits von Schuld und Sühne“, dass sich die deutsche Gesellschaft die Frage stellen müsste, wie sie „Menschen, die zwar eine andere Lebensart haben, die aber Menschen und die auch Christen sind, innerhalb unserer Staatsgrenzen zu behandeln gedenke.“ Die „Affäre Magolsheim“ erhielt landesweite Beachtung und wurde auch im Regionalfernsehen thematisiert.

Hinweis: Dieser Text stammt aus dem Nachlass unseres verstorbenen Projektmitarbeiters Christian Kelch, den wir mit dieser Veröffentlichung posthum würdigen möchten.

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