„Was wir sehen, ist also eine Serie von Einzelfällen“ – Interview mit Chana Dischereit über den antiziganistischen Vorfall von Singen und seine Folgen (Teil II)

Den ersten Teil des Interviews können Sie hier lesen.

Hankeln: Inwiefern würden Sie den Singener Fall als einen Einzelfall bezeichnen und inwiefern steht er vielleicht paradigmatisch für ein strukturelles Antiziganismusproblem der Singener oder gar der baden-württembergischen Polizei?

Dischereit: In Deutschland ist dies bisher der erste Fall, bei dem ein Minderjähriger unter 14 in Handschellen auf eine Wache gebracht wurde. Das erinnert in dieser Dimension stark an Zustände, wie sie in den USA herrschen. Entsprechend besorgt sind wir, aber entsprechend wurde es auch von politischer Seite sehr ernst genommen. Dass es zuvor ähnliche Fälle von Antiziganismus gegeben hat – auch im institutionell-staatlichen Bereich –, ist ebenso klar. Im Zuge der öffentlichen Aufmerksamkeit haben sich bei uns Sinti aus Singen gemeldet und von weiteren Übergriffen berichtet. Eine Gruppe Sinti war beispielsweise mit dem Auto unterwegs, wurde von der Polizei angehalten und mit den Worten ermahnt: „Zieht weiter, sonst kommt ihr hinter Gitter“. Auch am Vatertag 2019 kam es zu einem massiven und völlig unverhältnismäßigen Einsatz der Polizei. Oder im Kontext der NSU-Ermittlungen hat die Polizei in Heilbronn einen kategorischen Unterschied zwischen Aussagen aus der Mehrheitsgesellschaft und Roma, „Schaustellern“ sowie „Landfahrern“ gemacht; von letzteren befragten Zeugen haben sie sogar Familienstammbäume erstellt. Was wir sehen, ist also eine Serie von Einzelfällen. Aber es sind bisher kaum Studien vorhanden, die uns zeigen könnten, ob und inwiefern das ein strukturelles Problem der Polizei ist.[1] Laut der Leipziger Autoritarismus Studie 2020 denken mehr als 50 Prozent der deutschen Bevölkerung, dass Sinti und Roma zu Kriminalität neigen.[2] Das spiegelt sich dann in der polizeilichen Praxis wider. Man hat damit auf der einen Seite die über hundert Jahre alte Tradition der systematischen Erfassung der Minderheit durch die Polizei – und inwiefern damit in Deutschland völlig gebrochen wurde, ist nach wie vor nicht geklärt – und auf der anderen Seite haben wir ein gesamtgesellschaftliches Problem, das sich in der Polizeiarbeit spiegelt. 

Chana Dischereit, Wissenschaftliche Referentin für Politik und Öffentlichkeitsarbeit beim Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg. 
Quelle: Dischereit. | Klicken zum Vergrößern

Rauschenberger: Wenn man so einen Einzelfall einordnen möchte, ist nicht nur die Frage nach möglichen antiziganistischen Strukturen im Polizeiwesen relevant. Auch die Reaktion der Politik verrät viel über den Zustand einer Gesellschaft. Was können Sie über das Verhalten der Landesregierung sagen? Wie groß ist die Bereitschaft, sich an der Aufarbeitung zu beteiligen und mögliche Missstände in der Polizei, also im eigenen Zuständigkeitsbereich, anzugehen?

Dischereit: Unsere Zusammenarbeit mit der Landesregierung in dieser Sache funktioniert sehr gut. In den ersten 24 Stunden nach der Veröffentlichung unserer Pressemitteilung hatte es vom Innenministerium noch unterschiedliche Aussagen gegeben, aber dann wurde der Vorfall bestätigt und auch andere Ministerien hatten ihre Unterstützung zugesagt. Es kam zu Gesprächen mit dem Innenminister und der Landespolizeipräsidentin, was eine große Offenheit uns gegenüber zeigt. Infolge des Gesprächs werden wir eng in die polizeiliche Ausbildung miteinbezogen werden – auch in deren inhaltliche Ausrichtung. Das hatte sich bereits in den letzten Jahren angebahnt, doch erst in diesem Gespräch konkretisierten sich die Planungen über unsere Einbindung. Bedauerlicherweise hat sich der baden-württembergische Landespolizeiinspektor gegen eine Studie zum Thema „Antiziganismus und Polizei“ ausgesprochen und stattdessen auf die Studie des Bundesinnenministeriums verwiesen. Damit wurde für uns ein wichtiger Schritt verpasst; aber wir arbeiten weiter daran.

Hankeln: Haben Sie konkrete Erwartungen an das Ergebnis des Ermittlungs- und möglichen Strafverfahrens? Fordern Sie über die strukturelle Implementierung von Sensibilisierungsmaßnahmen in der Polizeiausbildung hinaus ein bestimmtes Strafmaß für die im Einzelfall beschuldigten Polizisten?

Dischereit: Wenn es zu einem Prozess kommt, werden wir ihn natürlich beobachten, aber grundsätzlich gehen wir davon aus, dass die Justiz gute und unabhängige Arbeit leistet. Wir vertrauen auf den Rechtsstaat, der sich auch in Ulm bewährt hat [Das Verfahren gegen die Täter des Brandanschlages bei Ulm von 2019 führte zu mehreren Verurteilungen, Anm. d. Verf.], und können uns dadurch auf andere Dinge konzentrieren, wie eben die Sensibilisierung der Polizei und der Öffentlichkeit. 

Das Polizeirevier der Stadt Singen. Quelle: Verband Deutscher Sinti und Roma, 
Landesverband Baden-Württemberg. | Klicken zum Vergrößern

Rauschenberger: Abschließend würde uns interessieren, wie Sie im Landesverband – oder in der Sinti-und-Roma-Bürgerrechtsbewegung überhaupt – auf uns als Vertreter der Antiziganismusforschung blicken. Nehmen Sie wahr, was an den Universitäten passiert, welche Projekte und Publikationen es gibt? 

Dischereit: Uns interessiert die Antiziganismusforschung natürlich sehr. Gerade die Entstehung der Heidelberger Forschungsstelle Antiziganismus haben wir mitinitiiert, da diese ein Produkt des ersten Staatsvertrags ist. Überhaupt ist die Forderung nach wissenschaftlicher Aufarbeitung schon immer Bestandteil der Bürgerrechtsbewegung gewesen. Insofern verfolgen wir die Arbeit der Forschungsstelle sehr aufmerksam und lesen die Veröffentlichungen. Gerade zum Antiziganismus nach 1945 schauen wir ganz gespannt auf Ihre Forschung. Zum Beispiel sind wir in der Geschichtsvermittlung an Schulen darauf angewiesen, auf dem aktuellsten Stand zu sein. Die Forschung bildet für uns außerdem die Grundlage, aktuelle Problemlagen auf der politischen Ebene vorzustellen. Der wissenschaftliche Diskurs erleichtert uns dies, weil das Thema dadurch auch in der Gesellschaft gesetzt wird. 

Hankeln: Frau Dischereit, haben Sie vielen Dank für das Gespräch. 

Chana Dischereit ist Wissenschaftliche Referentin für Politik und Öffentlichkeitsarbeit beim Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg.


[1] Chana Dischereit verweist auf eine erste Untersuchung von Markus End, der eine niedrigere Schwelle für den Einsatz von Gewalt gegen Sinti und Roma feststellen konnte, vgl. End, Markus: Fortgesetzte antiziganistische Ermittlungsansätze bei Polizei- und Sicherheitsbehörden. Das Beispiel Baden-Württemberg, in: Bürger & Staat, H. 1/2: Antiziganismus, S. 46-51. [Link

[2] Vgl. Oliver Decker/Elmar Brähler (Hg.): Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität. Leipziger Autoritarismus Studie 2020, Gießen 2020, S. 65. [Link

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