Behördliche Handlungsräume im demokratischen Rechtsstaat oder: Warum zwangssterilisierte Sinti trotz ähnlicher Verfolgungsschicksale nach 1945 unterschiedlich entschädigt wurden
Wie andere Säulen der postdiktatorischen bundesdeutschen Vergangenheitspolitik war auch die Institution der Wiedergutmachung in der deutschen Bevölkerung wenig populär. Die Aversion einer Mehrheit, die den Nationalsozialismus mitgetragen hatte, gegenüber materieller Umverteilung zugunsten der Minderheit, die in der NS-Zeit Nachteile erlitten hatte, ist auch mit der anhaltenden Ablehnung ebenjener Bevölkerungsteile zu erklären. Wer schon immer mit Verachtung auf Kommunisten, sonstige „Marxisten“, „Juden“, Homosexuelle, „Krüppel“, „Zigeuner“, am Rande der Gesellschaft lebende „Asoziale“ oder andere stigmatisierte Gruppen herabgeblickt hat, der wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nach 1945 ein Gegner von Zahlungen an diese Personengruppen gewesen sein. Solche tiefsitzenden Animositäten dürften auch die Bereitschaft zur Anerkennung derjenigen Sinti und Roma als wiedergutmachungsberechtigte Verfolgte gemindert haben, die den nationalsozialistischen Völkermord überlebt hatten.
Auf die Gesetzgebung wirkte sich die soziale Ressentimentsstruktur indes nicht entscheidend aus. Unter dem neuen Vorzeichen der Demokratie konnte es einen pauschalen Ausschluss der Sinti und Roma von Wiedergutmachungsleistungen nicht geben. Nicht nur nach § 1, Abs. 1 des württembergisch-badischen „Gesetz Nr. 951 zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts (Entschädigungsgesetz)“ von 1949 umschloss der Kreis der Wiedergutmachungsberechtigten – wie in der ganzen amerikanischen Besatzungszone – jeden, der „wegen seiner politischen Überzeugung, aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung“ unter der NS-Gewaltherrschaft verfolgt worden war,[1] auch die späteren Bundesgesetze, das Bundesergänzungsgesetz (BErgG) und das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) von 1953 und 1956, änderte an der prinzipiellen Einbezogenheit von Sinti und Roma in die Politik der Wiedergutmachung nichts.

Führt man sich die Verleumdung des führenden „Zigeunerexperten“ der Nachkriegszeit, des Ritter-Apologeten und öffentlichkeitswirksamen Sozialhygienikers Hermann Arnold vor Augen, der von der Minderheit „zugefallenen“ „beträchtlichen Wiedergutmachungsgelder[n]“ raunte und die „Hoffnung auf weitere Zahlungen“ zu einem neuen Erwerbsmodell der deutschen „Zigeuner“ erklärte,[2] so wird gleichwohl deutlich, dass die Verwaltungsbeamten, welche die allgemein gefassten entschädigungsrechtlichen Bestimmungen umzusetzen hatten, bei der Bearbeitung der Wiedergutmachungsanträge von Sinti und Roma dem Druck einer öffentlichen Meinung ausgesetzt waren, die keinen Zweifel daran ließ, dass der individuelle Ablehnungsbescheid stets die sozial erwünschte Option darstellte. Dass die Polemik eines Arnold keineswegs allein stand, belegen auch die selbstreflexiven Überlegungen, die der Senatspräsident des Oberlandesgerichts Frankfurt, Dr. Franz Calvelli-Adorno, einem 1961 erschienenen Aufsatz über die Entschädigung von Sinti und Roma voranstellte. Der in damaligen Juristenkreisen recht einsam für die Anerkennung von Sinti und Roma als „rassisch“ Verfolgte streitende Calvelli-Adorno mahnte seine Berufsgenossen sowie die Beamten der Wiedergutmachungsämter: „Das Unrecht und das namenlose Leid, das den Zigeunern […] angetan worden ist, verpflichtet jeden, der in Gesetzgebung, Verwaltung oder Rechtsprechung mit ihrer Entschädigung nach dem BEG zu tun hat, zur Selbstkontrolle seiner persönlichen inneren Einstellung“. Wenn selbst ein progressiver Kopf wie Calvelli-Adorno sich der subtilen Wirkmacht antiziganistischer Vorannahmen mit ihrer Tendenz zur Hemmung einer unvoreingenommen Prüfung bewusst war und daraus die Aufgabe ableitete, „jede emotionell bestimmte Entscheidung zu vermeiden“,[3] dann stellt sich unmittelbar die Frage, wie es den überall in Deutschland eingerichteten Wiedergutmachungsämtern in einer solchen gesellschaftlichen Atmosphäre gelang, parlamentarisch verabschiedete Entschädigungsgesetze ihrem Sinn und Buchstaben nach anzuwenden und demnach auch Sinti und Roma ihr Recht auf eine Entschädigung nicht zu verwehren. Hielten sich die Ämter – wie es sich für Behörden im demokratischen Rechtsstaat gehört – streng an die politisch gesetzten Rechtsnormen und Ausführungsbestimmungen und behandelten sie die Anträge der weiterhin stigmatisierten Sinti und Roma „sine ira et studio“ oder suchten und fanden sie Handlungsspielräume, die ihnen erlaubten, die vermeintliche Bereicherung von „Zigeunern“ an öffentlichen Geldern einzuschränken, um so nicht nur ihre eigenen antiziganistischen Vorurteile zu bestätigen, sondern auch der feindlichen Stimmung im Lande entgegenzukommen?

Im Folgenden wird anhand von drei Einzelschicksalen ein Einblick in die Praxis baden-württembergischer Entschädigungsämter gegeben, der zeigt, dass ein sich weitgehend deckendes Verfolgungsschicksal nicht bedeutete, dass im Ergebnis auch eine ähnlich hohe Entschädigungssumme ausgezahlt wurde. Dies verweist darauf, dass die behördlichen Handlungsräume der Wiedergutmachungsverwaltung mitunter großzügig ausgestaltet waren, was sie als eigenständigen historischen Akteur hervortreten lässt und ihr Handeln zum vielversprechenden Sujet der Forschung macht.
Laura P., geboren 1927, Franziska W., geboren 1909 und Helmut A., geboren 1925[4] haben gemeinsam, dass sie in der Spätphase des „Dritten Reiches“ als sogenannte „Zigeunermischlinge“ zwangssterilisiert wurden. Als zwangssterilisierte Sinti bzw. Sintizze gehörten die drei zu einer Subgruppe von NS-Opfern, die es in der deutschen Nachkriegsgesellschaft besonders schwer hatte, Gehör zu finden, Anerkennung oder gar Mitleid zu erfahren. Vielfach wurde der massive und folgenreiche Angriff auf die Körper nicht als Ausdruck einer inhumanen Rassenpolitik, sondern als eine im Grunde legitime, mindestens vertretbare Maßnahme aus dem Bereich der nicht spezifisch nationalsozialistischen, sondern schlicht zeittypischen „Erbgesundheitslehre“ bewertet. Wer gegen seinen Willen unfruchtbar gemacht worden war, der galt in dieser Vorstellung nicht als Opfer einer brutalen Verstümmelung, sondern als Träger angeblich erblicher körperlicher oder psychischer Krankheiten, deren Weiterverbreitung unter Inkaufnahme menschlicher Härten verhindert werden musste, was – wie nicht zu Unrecht ergänzt wurde – auch in anderen europäischen Ländern zur Mitte des 20. Jahrhunderts gängige Praxis öffentlicher Gesundheitspflege war.

Der prekäre Status der Zwangssterilisierten in der Opferhierarchie der Nachkriegszeit hinterließ besonders in der Entschädigungsakte Helmut A.s Spuren. Schon im November 1948 musste ihm die Kreisbetreuungsstelle für die Opfer des Nationalsozialismus beim Landratsamt in Calw mitteilen, dass „in den Richtlinien für die Anerkennung der Opfer des Nationalsozialismus die Art ihres Schadens nicht aufgeführt ist, weshalb Sie keinen Anspruch auf einen Ausweis haben“. Nur ein knappes Jahr später trat dieselbe Stelle als Überbringer einer weiteren schlechten Nachricht in Erscheinung. Weil „in dem demnächst in Kraft tretenden Wiedergutmachungsgesetz für das Land Südwürttemberg-Hohenzollern Personen, welche […] sterilisiert worden sind, keine Berücksichtigung gefunden haben“, sei der gestellte Wiedergutmachungsantrag „hinfällig geworden“. Schließlich setzte sich doch die Auffassung durch, dass zumindest im Hinblick auf die späten Opfer, die nicht auf Grundlage des 1933 verabschiedeten „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von einem Erbgesundheitsgericht zur Unfruchtbarmachung verurteilt, sondern ohne gesetzliche Grundlage auf Basis des „Auschwitz-Erlasses“ Heinrich Himmlers und pseudowissenschaftlicher Rassediagnosen für die Sterilisation ausgewählt worden waren und denen man unter Androhung von KZ-Einweisung die Zustimmung zu dem operativen Eingriff abgepresst hatte, von einer „rassischen“ Verfolgung im oben zitierten Sinne des BEG die Rede sein konnte, sodass A. im Juli 1954 schließlich doch eine Entschädigung von 2.000 DM zugesprochen wurde.

Im Falle von Laura P. allerdings hatte das beim Finanzministerium des Nachbarlandes Baden angesiedelte Amt für Vermögenskontrolle und Wiedergutmachung bereits im Oktober 1951 einen Antrag auf Gewährung von Geschädigtenrente und Heilfürsorge mit der Bewilligung eines aus übergesetzlichen Mitteln „guttatsweise“ – also aus Kulanz und ohne einen Rechtsanspruch gegenüber dem Staat entstehen zu lassen – bestrittenen Vorschusses von 2.000 DM sowie der Befürwortung einer Auszahlung von gut 7.000 DM als Ersatz für die zuvor gescheiterte Rückoperation beantwortet. Dass die gesetzliche Regelung in Baden eine grundlegend andere gewesen ist als im ebenfalls zur französischen Besatzungszone gehörenden Württemberg-Hohenzollern, wo die gleiche zonenrechtliche Rahmenverordnung galt, ist unwahrscheinlich. Anzunehmen ist eher, dass die Freiburger Behörde mit mehr Wohlwollen zu Werke ging als die Kollegen im südwürttembergischen Wiedergutmachungsamt Nagold, die die Ablehnung von A.s Antrag im Januar 1951 noch einmal bekräftigt und den Antragsteller auf eine mögliche „weitere Regelung“ im Hinblick auf Zwangssterilisierte vertröstet hatte.
Geringer wurden die Handlungsspielräume beider Landesämter dann mit Inkrafttreten des BEG, denn im Dezember 1953 kommunizierte das zentrale württemberg-hohenzollerische Landesamt für Wiedergutmachung Tübingen an das nachgeordnete Wiedergutmachungsamt Ravensburg im Hinblick auf den dort bearbeiteten Wiedergutmachungsantrag Franziska W.s, dass
„das BEG […] eine § 95 des WHEG [Württemberg-Hohenzollerisches Entschädigungsgesetzt, J.R.] entsprechende Vorschrift nicht [enthält]. Wer also – wie die Antragstellerin – aus rassischen Gründen sterilisiert wurde, kann, wenn die Voraussetzungen im übrigen gegeben sind, als Verfolgte im Sinne des § 1 Abs. 1 BEG Entschädigung gemäss den allgemeinen Vorschriften, u.a. auch für Schaden an der Gesundheit erhalten“,
woraufhin W., nachdem sie verschiedene, teils widersprüchliche ärztlichen Begutachtungen hinter sich gebracht hatte, nach Abschluss eines Vergleichs und unter Verzicht auf alle weiteren Ansprüche mit 1.000 DM entschädigt wurde.
Dass auch innerhalb des gleichen Landesamts Möglichkeiten bestanden, objektiv gleich gelagerte Fälle unterschiedlich zu behandeln zeigt sich darin, dass die Vergleichssumme, die Helmut A. zugestanden wurde, mit 2.000 DM doppelt so hoch lag. Begründet wurde diese Halbierung des üblichen Betrages bei W. mit den sechs Kindern, die diese bereits hatte, als sie im Alter von 35 Jahren zwangssterilisiert wurde. Die „Einbuße an Lebensglück und Unterhaltschancen“ könne demnach „nur sehr gering gewesen sein“.

Ein nächster Unterschied in den beiden südwürttembergischen Wiedergutmachungsfällen zu W.s Nachteil ergab sich dadurch, dass A. seinen Fall in den 1960er Jahren mit rechtsanwaltlicher Hilfe noch einmal aufrollen ließ, was bei W. offensichtlich nicht geschehen ist. Obwohl der neuerliche Antrag auf Entschädigung wegen Schadens an Körper und Gesundheit zunächst wiederum zurückgewiesen worden war, konnte A., nachdem er dagegen geklagt hatte, vor dem Landgericht Stuttgart einen weiteren Vergleich in Höhe von 3.000 DM erstreiten. Hier zeigt sich die immer mitzudenkende Option, die Wiedergutmachungsbeamten zur Beeinflussung der Verfahrensausgänge zur Verfügung stand und als gängige Praxis wahrgenommen wurde: die Möglichkeit des Nichthandelns. Nur wer hartnäckig insistierte und auf die dafür notwendigen Ressourcen wie Alphabetisierung, verwaltungsrechtliches Grundwissen oder Kapital zur Deckung von Anwaltskosten zugreifen konnte, kam möglicherweise auf dem Umweg der Rechtsmittelinstanzen zu einem halbwegs erfolgreichen Abschluss seines Falles.
Bis in die späten 1980er Jahre, als der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma für alle drei hier vorgestellten Antragsteller noch einmal erhebliche Verbesserungen und Nachzahlungen verhandelte, wurden Helmut A. also 5.000 DM, Katharina W. aber nur 1.000 DM zugesprochen. Noch gravierender fällt die Differenz zu Laura P. aus. Nachdem ihr bereits über das Badische Landesgesetz insgesamt 9.000 DM bewilligt worden waren, erkannte ihr, die sich wie A. der Hilfe eines Anwalts bedienen konnte, das Freiburger Wiedergutmachungsamt im Juni 1968 eine monatliche Rente in Höhe von 199 DM zu, die nicht nur zukünftig gewährt, sondern auch rückwirkend ab 1953 berechnet wurde, sodass ein einmaliger Auszahlungsbetrag von 34.683 DM zustande kam. Bis auch P. Ende der 1980er Jahre noch einmal ein mittlerer vierstelliger Betrag ausgezahlt wurde, hatte sie also bereits das neunfache des Geldes erhalten, mit dem A. entschädigt wurde, der seinerseits die fünffache Summe des Betrages bekam, mit dem W. abgespeist worden war.

Die in ihren heterogenen Verläufen und Resultaten beschriebenen Wiedergutmachungsfälle zeigen also eindrücklich, wie groß die Spannweite der von zwangssterilisierten Sinti und Roma erreichbaren Wiedergutmachungsleistungen war. Dabei zeichnen sich einige Mittel ab, die den Entschädigungsbehörden zur Verfügung standen, um bei ähnlicher oder gleicher Rechtsgrundlage und bei nahezu identischen Schädigungssachverhalten eine positive oder negative Entscheidung, eine höhere oder niedrigere Bemessung des Auszahlungsbetrages herbeizuführen. Obwohl tiefergehende Analysen des behördlichen Handelns im Hinblick auf die Entschädigung von Sinti und Roma erst nach Sichtung einer Vielzahl weiterer Einzelfälle möglich sein werden, genügt bereits der hier gewährte Einblick, um festzustellen, welch großer Stellenwert den einzelnen Wiedergutmachungsämtern und ihrem Personal zukam. Für eine Charakterisierung der Wiedergutmachungspraxis, wie sie im Forschungsprojekt angestrebt wird, reicht es demnach nicht aus, die Wiedergutmachungspolitik auf der Ebene der geltenden Gesetze zu studieren. Vielmehr kann letztlich nur die Arbeit an den Einzelfallakten zu einer tragfähigen Gesamtbewertung der Entschädigung der überlebenden Sinti und Roma führen.
[1] Gesetz Nr. 951 zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts (Entschädigungsgesetz) vom 16.8.1949, in: Regierungsblatt für Württemberg-Baden 1949, S. 187.
[2] Hermann Arnold: Die Zigeuner. Herkunft und Leben der Stämme im deutschen Sprachgebiet, Freiburg i. Br. 1965, S. 206.
[3] Franz Calvelli-Adorno: Die rassische Verfolgung der Zigeuner vor dem 1. März 1943, in: Rechtsprechung zur Wiedergutmachung (1961), S. 529–537.
[4] Die Nachnamen wurden aus Gründen des Personenschutzes verfremdet.