Joey Rauschenberger, M.A.

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Die transformierte Kontinuität des Antiziganismus in Baden-Württemberg und seinen Vorgängerländern von der Gründung bis zur Liberalisierung der Demokratie

Das Dissertationsprojekt will den Umgang der deutschen Mehrheitsgesellschaft mit der Minderheit der Sinti und Roma von 1945 bis in die frühen 1970er Jahre erforschen. Der Untersuchungszeitraum erfasst einerseits die frühe Nachkriegszeit, für die sich die Frage aufdrängt, wie sich Perzeption und Behandlung der Sinti und Roma vor dem Hintergrund des gerade zurückliegenden Völkermordes ausnahmen. Zugleich reicht er aber auch bis in die Zeit der von der Forschung als „Fundamentalliberalisierung“ (Jürgen Habermas) der Bundesrepublik apostrophierten Jahre um 1968 hinein, wodurch untersucht werden kann, wie sich der politisch-soziale Wandel auf die Wahrnehmung der deutschen Sinti und Roma auswirkte.

Räumlich ist die Studie auf das Gebiet des heutigen Baden-Württembergs begrenzt, das sich bis zur Gründung des neuen Bundeslandes 1952 auf die drei Vorgängerländer Württemberg-Baden, Württemberg-Hohenzollern und (Süd)-Baden erstreckte. Da die nördlichen Teile des Südweststaates im Mittelpunkt anderer Forschungsvorhaben stehen, soll die südliche Hälfte des Bundeslandes – die ehemaligen Länder Württemberg-Hohenzollern und Baden bzw. die heutigen Regierungsbezirke Tübingen und Freiburg – schwerpunktmäßig behandelt werden, um so einen komplementären Beitrag zur Forschung zu leisten. Mit dem kleinräumigen Zugriff auf das Thema geht zudem eine Nahperspektive auf Quellen und Forschungsgegenstand einher, die eine besonders tiefe Durchdringung, dichte Beschreibung und Analyse der Zusammenhänge erlaubt.

Die Untersuchung beruht auf der Ausgangshypothese, dass der mehrheitsgesellschaftliche Umgang mit den Sinti und Roma in der Nachkriegszeit und den ersten Dekaden der Bundesrepublik grundsätzlich von antiziganistischen Denk- und Handlungsmustern bestimmt war. Im Fokus steht demnach die Entwicklung dieses antiziganistischen Paradigmas über die für die jüngere deutsche Geschichte so zentralen Zäsuren von 1945 und „1968“ hinweg, die sich – so die Arbeitsthese – im Spannungsfeld zwischen Kontinuität und Transformation, zwischen dem Fortwirken rassistischer Strukturen und ihrer partiellen Anpassung an gewandelte, demokratische bzw. sozialliberale Zeittendenzen bewegte.

Theoretisch wird der Antiziganismus als ein soziales Phänomen aufgefasst, dessen System von meist abwertenden Zuschreibungen nicht in erster Linie Aufschluss über die exkludierte Fremdgruppe gibt, sondern dessen inhaltliche Ausgestaltung und Verbreitungsgrad viel über die mentalen Zustände antiziganistischer Dominanzgesellschaften, deren Selbstwahrnehmungen und Binnenkonflikte verrät. Die Potentiale der Studie liegen daher nicht nur in der Aufhellung des Schicksals südwestdeutscher Sinti und Roma nach den Verheerungen des Nationalsozialismus, sondern auch an die allgemeine Geschichte der Nachkriegszeit und der frühen Bundesrepublik ist die Dissertation anschlussfähig.

Methodisch wird ein pluraler Ansatz verfolgt, um den gesellschaftlichen und staatlichen, öffentlichen und halb-öffentlichen, institutionellen und alltäglichen Antiziganismus möglichst breit erfassen zu können. Erstens soll den Kontinuitäten in der wissenschaftlichen Betrachtung der Sinti und Roma nachgespürt werden. Akteure der „Rassenforschung“, die sich im Nationalsozialismus am Genozid vorbereitend beteiligt hatten, setzten ihre Karrieren teilweise auch an südwestdeutschen Universitäten fort und sorgten für ein Fortbestehen antiziganistischer Deutungsmuster in akademischen Zirkeln. Neben diesen elitären Diskursen soll zweitens die populäre Perspektive auf Sinti und Roma untersucht werden, die in der medialen Vermittlung greifbar wird. Drittens soll die Entwicklung antiziganistischer Diskriminierungspraxis am Beispiel der auf dem Feld der Minderheitenpolitik nicht zu überschätzenden Ebene kommunaler Politik beleuchtet werden, indem das Verwaltungshandeln vor Ort involvierter Kommunalbehörden fokussiert wird. Schließlich gehören viertens und fünftens zum gesellschaftlichen Umgang mit den überlebenden Sinti und Roma nach 1945 auch die im Verbundprojekt in den Mittelpunkt gerückten Prozesse der „Reintegration, Schuldzuweisung und Entschädigung“ ehemaliger Täter und Opfer: Für die früheren Täter der NS-Zigeunerverfolgung sollen Mechanismen der politischen Säuberung oder beruflichen Wiedereingliederung abstrahiert werden, während im Hinblick auf die Opfer zu fragen ist, inwiefern eine Anerkennung des ihnen zugefügten Leids erfolgte, die zuvorderst am Verhalten gegenüber den Wiedergutmachungsansprüchen südwestdeutscher Sinti und Roma abgelesen werden kann.